Das Revolutionspotential zeitgenössischer Literatur
Der Eindruck drängt sich auf, dass Fähigkeit und Wille zur politischen Kritik unter jüngeren AutorInnen einerseits abnehmen (vielleicht, so die einfachste Schuldzuweisung, aufgrund karrieretechnischer Zwangsneurosen, vom Literaturbetrieb Neueinsteigern abverlangt), andrerseits kaum ein relevantes Forum für die Reaktion auf Missstände vorhanden ist, denn wohin, zu welcher Zeitschrift oder welchem Verlag, will man sich mit intellektueller, literarischer Stellungnahme wenden? Selbstverständlich kann und muss kein schreibend tätiger Mensch zu allem eine Meinung haben, dem grassierenden Schweigen zu vielem fehlt dennoch die Rechtfertigung.
In dieser Diskrepanz, gegenwärtig zwischen politischen und sozialen Krisen und der literarischen Äußerung aufklaffend, entstand die Idee, mithilfe einer Autorentagung eine Plattform essayistisch-literarischer Diskussion zu kreieren - in einer Gesellschaft, die verstärkt an die Unsterblichkeit des Kapitalismus und dessen Alternativlosigkeit glaubt, ist diese Veranstaltung ein Experiment, das wert ist, versucht zu werden, neigt doch gerade die Literatur zur Erschaffung von Gegenwelten, Neuformulierungen und verwahrt in sich (ums im Widerspruch zum marktwirtschaftlichen Kalkül pathetisch weiter zu formulieren) die Fähigkeit, dank anarchischer Phantasie der Konformität einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Zwar durch Defizite motiviert, die in Staatshaushalten und verschiedensten Budgets versteckt die Gesellschaft ins Brodeln, Kippen bringen, sind Symposien oder Tagungen als Gegenmittel naturgemäß und immer zu hinterfragen; es lauert die gesellige Gefahr, über ein freundschaftliches Aufeinandertreffen nicht hinaus zu gelangen und während zwei schön verplauschter Tage weder Standpunkte erreicht noch der gähnenden Selbstgefälligkeit Paroli geboten zu haben. Doch vielleicht muss man Feuer mit Feuer bekämpfen, und nachdem die (nicht ausschließlich, aber besonders) zu kritisierenden oberen Etagen von Wirtschaft und Politik mit Vorliebe Gipfel und Konferenzen abhalten, soll nun in ähnlicher Weise improvisiert werden, denn: In Europa passiert gerade Geschichte, die kaum literarisches Echo hervorruft, daher mögen Autorentagung und vorliegende Anthologie das kreative Gespür für gesellschaftliche Vorgänge schärfen und ein Forum für in Aussprache und Text gebrachte Kritik ermöglichen, fern aller Ideologien durchdacht und individuell.
Das Symposium versammelte dreizehn Schreibende aus verschiedenen Teilen Europas, die im Angesicht der Proteste von Madrid, Athen, Tel Aviv und London, während Sozialsysteme zerbrechen und mithilfe von Wirtschaftskrisen Ängste geschürt werden, die Möglichkeiten engagierter Literatur verorten. Nicht, um Epigonen heranzuzüchten, sondern um unterschiedliche Erfahrungs- und Diskurswelten gegenseitig zu erproben, eröffnete dankenswerterweise der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch mit einem Impulsreferat zur gegenwärtigen Situation in seinem Herkunftsland und sprach über die Rolle des Autors in einem diktatorischen System, bzw. über die schreibend (un)mögliche Opposition. Es war zu hinterfragen, wie weit sich Bedingungen, Erfordernisse und Grenzen des literarischen Agierens innerhalb des gemeinsamen europäischen Rahmens unterscheiden und welche Chancen und Risiken das WWW beinhaltet - hinsichtlich der eigenen Textdarstellung in neuen Kanälen, als Plattform des Widerstandes und aufgrund ungeahnter Möglichkeiten zu Zensur und Überwachung.
Basierend auf den damaligen, regen Diskussionen entstand zudem diese Anthologie, die in sich die unterschiedlichsten Ansätze versammelt, um in literarisch wie essayistischer Weise der Gesellschaftskritik neue Stimmen beizufügen.
Robert Prosser
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